Thema des Tages

20-09-2021 09:20

Die Krux der Irreversibilität

Das Klimasystem ist kein träges Faultier, das immer nur allmählich
auf Änderungen reagiert. Vielmehr können einige Faktoren des
Erdsystems plötzlich in einen neuen, unumkehrbaren Zustand versetzt
werden. Die Rede ist von sogenannten Kipppunkten.

Unser Klimasystem ist ein komplexes Zusammenspiel: Ozean, Land,
Atmosphäre, Biosphäre und Eismassen sind keine "isolierten"
Komponenten, sondern vielmehr in stetiger Wechselwirkung miteinander.
Man könnte dabei vielleicht meinen, dass allmähliche Änderungen auch
zu einer allmählichen Reaktion führen, so wie wir es aus vielen
Bereichen des Lebens kennen. Doch dem ist nicht so: Auch kleine
Änderungen können plötzliche und drastische Auswirkungen haben. Man
kann das mit einer Kaffeetasse vergleichen, die langsam über den
Tischrand geschoben wird. Zunächst passiert nichts, doch plötzlich
erreicht sie einen kritischen Punkt, an dem sie kippt.

Im Klimasystem gibt es gleich mehrere solcher ?Kipppunkte? oder
"Kippelemente" (englisch: "Tipping points"), für die gilt: Wird ein
bestimmter Schwellenwert erreicht, kann das zu schnellen und
unumkehrbaren Veränderungen führen. Genau in dieser Irreversibilität
liegt das große Problem, denn selbst wenn die Ursache für "das
Kippen" anschließend zurückgenommen werden würde, würde das System
Klima nicht unbedingt wieder in den alten Zustand zurückkehren. Wie
die zerbrochene Kaffeetasse. Oder um es mit einem Beispiel von Dr.
Eckhart von Hirschhausen zu beschreiben: Wenn man ein Ei kocht, wird
es hart - und es bleibt hart, auch wenn das Wasser wieder abkühlt.

Bereits das Überschreiten einzelner Kipppunkte hat also weitreichende
Umweltauswirkungen. Zudem besteht zusätzlich das Risiko, dass durch
Rückkopplungsprozesse weitere Kipppunkte im Erdsystem überschritten
werden und so eine dominoartige Kettenreaktion ausgelöst wird. Quasi
eine "Kipp-Kaskade".

Doch was sind nun diese Kipppunkte?

Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) teilt sie in drei
Kategorien: 1. Schmelzende Eiskörper (zum Beispiel Arktisches
Meereis), 2. Veränderte Strömungssysteme (zum Beispiel Atlantische
Thermohaline Zirkulation) und 3. Bedrohte Ökosysteme (zum Beispiel
Amazonas-Regenwald).

Zehn unterschiedliche Kippelemente sind in der beigefügten Grafik
dargestellt. Drei Beispiele:

- Das grönländische Festlandeis ist bis zu 3 km dick, verliert durch
Abschmelzen jedoch an Höhe. Seine Oberfläche, die sich jetzt noch in
hohen und damit kalten Luftschichten befindet, sinkt und wird somit
wärmeren Temperaturen ausgesetzt. Das wiederum verstärkt das
Abschmelzen weiter. Sobald eine bestimmte globale Temperaturzunahme
überschritten ist, lässt sich das vollständige Schmelzen des
Eispanzers nicht mehr aufhalten, was Wissenschaftlern zufolge zu
einem Meeresspiegelanstieg von bis zu sieben Metern führen kann.

- Der Amazonas-Regenwald ist ein gewaltiger Kohlenstoffspeicher.
Circa ein Viertel des weltweiten Kohlenstoffaustauschs zwischen
Atmosphäre und Biosphäre finden dort statt, er ist quasi die "grüne
Lunge" der Erde. Durch extreme Trockenheit werden die Bäume so stark
angegriffen, dass sie absterben. Weiter fortschreitende Abholzung
verstärkt das Problem. Bei einem Umkippen des Regenwaldes etwa in
eine Savannen-Vegetation könnte also kaum oder nur noch wenig
Kohlendioxid gebunden werden und enorme Mengen des Treibhausgases
blieben in der Atmosphäre.

- Im hohen Norden befindet sich auf einer Fläche von 10 Mio. km²
(etwa der 30-fachen Fläche Deutschlands) Permafrost. Mehrere Hundert
Milliarden Tonnen Kohlenstoff sind dort seit der letzten Eiszeit
eingelagert. Wenn er auftaut, zersetzt sich das darin erhaltene
organische Material und es wird Kohlenstoff und Methan frei. Der
Auftauprozess schreitet derzeit viel schneller voran, als selbst die
pessimistischsten wissenschaftlichen Studien annahmen. Inzwischen ist
das Auftauen so weit vorangeschritten, wie es in den Szenarien des
IPCC für das Jahr 2090 prognostiziert wurde.

Bei den düsteren Prognosen also resignieren und einfach hoffen, dass
"nichts kippt"? Dazu sei gesagt, dass jedes (gar jedes Zehntel) Grad
einen Unterschied macht ? siehe zweite beigefügte Grafik. Und im
Gegensatz zur kaputten Kaffeetasse, die einfach neu gekauft werden
könnte, haben wir diese Möglichkeit bei der Erde leider nicht.

Dipl.-Met. Magdalena Bertelmann
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 20.09.2021

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