Thema des Tages

04-03-2022 10:20

Der digitale Zwilling

In den nächsten Jahren soll ein hochpräzises, digitales Erdmodell
entwickelt werden und die Erde damit quasi ein virtuelles Abbild
ihrer selbst bekommen. Was hat es mit dieser EU-Initiative auf sich?

Um bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu werden, hat die Europäische
Union mit dem "Green Deal" und der "Digital Strategy" zwei große
Programme gestartet. Eine Schlüsselkomponente ist dabei die
Initiative "Destination Earth", deren Startschuss Ende letzten Jahres
fiel und bis zu zehn Jahre laufen soll. Ziel von "Destination Earth"
ist es, ein hochpräzises digitales Modell der Erde zu entwickeln, das
in der Lage ist, alle Prozesse zu simulieren, die auf unserer Erde
heute und in der Zukunft ablaufen. Die Erde soll also quasi ein
virtuelles Abbild ihrer selbst bekommen: einen digitalen Zwilling.

Der Zwilling soll Antworten liefern auf die große Frage, wie sich
Klimaveränderungen und Extremereignisse auf unsere Welt auswirken. Er
soll es der Politik und Wirtschaft in Deutschland und Europa
ermöglichen, die Zukunft vorausschauend zu planen. Mit dem digitalen
Zwilling soll ein Informationssystem entstehen, das Szenarien
entwickelt und testet.

Szenarien kennt der ein oder andere wahrscheinlich auch schon von
Wetter- und Klimavorhersagen und stellt sich vielleicht die Frage:
Worin liegt denn dann der Unterschied zu den aktuellen
Computermodellen? Bisher wurden in der Wetter- und Klimamodellierung
unterschiedliche Ansätze verfolgt: Während Klimamodelle eine sehr
breite Palette physikalischer Prozesse abbilden, vernachlässigen sie
typischerweise kleinräumige Prozesse und lokale Gegebenheiten, die
jedoch für die Wettervorhersagen unerlässlich sind. Wettermodelle
hingehen konzentrieren sich auf diese wenigen, kleinräumigen
Prozesse, lassen dafür aber wichtige klimarelevante physikalische
Vorgänge unberücksichtigt. Der digitale Zwilling wird beide Bereiche
zusammenführen und hochauflösende Simulationen ermöglichen, die es so
bisher noch nicht gab.

Um dieses hochpräzise Modell unseres Planeten zu entwickeln, ist die
Nutzung einer unvorstellbar großen Datenmenge, nicht nur aus den
Bereichen Klima und Meteorologie, sondern auch aus dem Bereich des
menschlichen Verhaltens notwendig. Schrittweise sollen einzelne
digitale Zwillinge entwickelt und später kombiniert werden, um so
letztendlich ein einziges hochkomplexes Modell des Erdsystems zu
erhalten.

"Destination Earth" wird von der Europäischen Kommission in enger
Kooperation mit den Mitgliedsstaaten sowie wissenschaftlichen und
technischen Experten koordiniert. Treibende Kräfte sind die ESA
(Europäische Weltraumorganisation), EUMETSAT (Europäische
Organisation für die Nutzung meteorologischer Satelliten) und das
ECMWF (Europäisches Zentrum für mittelfristige Wettervorhersage), die
die Initiative über die nächsten 7-10 Jahre implementieren.

Die Daten sollen später frei zugänglich und leicht nutzbar sein,
nicht nur für Behörden, sondern auch für Unternehmen.
Anwendungsbeispiele gibt es viele: "Wenn man in Holland
beispielsweise einen zwei Meter hohen Deich plant, kann ich die Daten
in meinem digitalen Zwilling durchspielen und überprüfen, ob der
Deich aller Voraussicht nach auch im Jahr 2050 vor zu erwartenden
Extremereignissen schützt", sagt Peter Bauer, stellvertretender
Direktor für Forschung am ECMWF und Mitinitiator von Destination
Earth. Auch Stadtplaner könnten simulieren, wie sich
Grundwasserstände verändern; Rückversicherer die Risiken durch
Extremwetter abschätzen oder Landwirte eine Bewässerungsstrategie
entwickeln. Auch für die strategische Planung von Frischwasser- und
Lebensmittelversorgung soll der digitale Zwilling genutzt werden.

Das Herz von Destination Earth wird eine cloud-basierte
Modellierungs- und Simulationsplattform sein. Über diese erhalten
verschiedene Benutzergruppen der wissenschaftlichen und privaten
Gemeinschaft Zugang zu den Daten, zur HPC (High Performance
Computing)-Infrastruktur, zu Apps, Software und KI (Künstliche
Intelligenz).

Wie sehen nun die konkreten Schritte der nächsten Jahre aus? Ziel ist
es, bis 2024 die Entwicklung der Open-Core-Digitalplattform und der
ersten beiden digitalen Zwillinge (zu extremen Naturereignissen und
Anpassung an den Klimawandel) abzuschließen. Bis 2027 sollen weitere
digitale Zwillinge, wie z.B. der digitale Zwilling des Ozeans,
integriert werden, um branchenspezifische Anwendungsfälle zu
bedienen. Bis 2030 soll es dann durch die Zusammenführung der
digitalen Zwillinge eine vollständige digitale Nachbildung der Erde
geben.

Dipl.-Met. Magdalena Bertelmann und Kolleg:innen der Stabstelle
"Internationale Angelegenheiten"
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 04.03.2022

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