Thema des Tages

04-02-2023 14:20


Wissenschaft kompakt

Das Vermächtnis des Vernon Francis Dvorak


Zur Erinnerung an einen großartigen Wissenschaftler und Meteorologen.



Am 19. September des vergangenen Jahres ereilte uns Meteorologen die
traurige Nachricht, dass der Wissenschaftler Vernon Francis Dvorak im
Alter von 93 Jahren im nordamerikanischen Kalifornien verstarb. Keine
Sorge, sollten Sie mit diesem Namen nichts anfangen, dann liegt das
vor allem daran, dass sein eigentliches meteorologisches Interesse in
den Tropen lag. Viel ist über ihn als Person nicht bekannt, doch umso
mehr über seine Arbeit.

Herr Dvorak gilt als Erfinder der Intensitätsabschätzung tropischer
Wirbelstürme, die bis heute mehr oder weniger Bestand hat und unter
dem Begriff der "Dvorak Analyse" in Kreisen der Meteorologen
Bekanntheit erlangte. Über 30 Jahre lang war und ist dies die
wichtigste Grundlage, um die Intensität von tropischen Wirbelstürmen
abschätzen zu können. Wie viele Menschenleben durch diese Methode
gerettet wurden, kann man schwer sagen, es dürften aber Zehntausende
sein, wenn man sich vor Augen führt, wie viele Millionen Menschen
weltweit in Regionen leben, die von tropischen Wirbelstürmen Jahr für
Jahr heimgesucht werden. Im Grunde kann man sich kaum eine andere
meteorologische Innovation vorstellen, die so unbeschadet solch eine
lange Zeit überstanden hat.

Für diese Intensitätsanalyse bedarf es Satelliten, die in
regelmäßigen Abständen eine Flut von Datensätzen zur Erde schicken
und die dort von Meteorologen analysiert werden. In den 60-iger
Jahren begann das Zeitalter der meteorologischen Satelliten mit
Explorer (der erste Satellit für Wetterbeobachtungen im Jahr 1959),
TIROS I (erster erfolgreicher Metsat im Jahr 1960), NIMBUS, TIROS und
wie sie alle noch so hießen, die in den 60-igern und 70-iger Jahren
ins Weltall geschossen wurden. Mit der Zunahme an Satelliten wurde es
immer schwerer für die diensthabenden Meteorologen die Fülle an
Informationen zeitnah zu interpretieren und zu verwerten, sodass
Dvoraks Intensitätsabschätzung in Folge einer sogenannten
"Wolkenmustererkennungstechnik" genau zur richtigen Zeit kam. Die
ersten Erwähnungen dieser Methode der Intensitätsabschätzung tauchten
1972 auf und wurden in der Folge mehrmals u.a. von ihm aktualisiert.

Doch worum handelt es sich bei dieser Analyse eigentlich?

Grundsätzlich geht es darum, anhand der Wolkenstruktur des Sturmes
die Intensität abschätzen zu können. Dazu werden vier Eigenschaften
berücksichtigt: zwei kinematische und zwei thermodynamische
Eigenschaften.

Die kinematischen beschreiben mit der Vorticity (Wirbelstärke einer
Strömung) und der vertikalen Windscherung (Windabnahme oder -zunahme
mit der Höhe) die dynamischen Komponenten.
Je stärker eine Störung bzw. je kräftiger ein Tropensturm ist, umso
größer sind die Werte der Vorticity und umso besser bilden sich
bestimmte Wolkenstrukturen aus, die in Bändern um das Zentrum des
Sturms angeordnet sind und repräsentativ für die Intensität eines
Sturmes sind.
Für die Entstehung eines Tropensturms wird eine schwache Windscherung
bevorzugt, da eine zu starke Scherung den Sturm regelrecht
auseinanderreißt (bzw. die Vorticity verringert).

Die thermodynamischen Eigenschaften beinhalten die Ausprägung der
Konvektion, denn je mehr Konvektion in der Nähe zum Zentrum zu finden
ist, umso mehr latente Wärme wird dort freigesetzt, die vereinfacht
gesagt den Wirbel antreibt und den Sturm intensiviert.
Die letzte Eigenschaft betrachtet die Temperaturverteilung in
Zentrumsnähe, besonders dann, wenn sich ein Auge im Tropensturm
ausgebildet hat. Dieses ist durch absinkende Luftmassen geprägt und
je kräftiger der Sturm ist, umso wärmer fällt die Temperatur des
Auges aus, was man mit Hilfe des Satelliten gut erkennen kann.

Die Durchführung dieser Intensitätsbestimmung ist ein sehr komplexes
Verfahren, das u.a. durch die immer besseren Satellitendaten (vom
sichtbaren Bereich bis in den Mikrowellenbereich) wiederholt
angepasst und ausgebaut wurde.

Die grundsätzliche Herangehensweise lautet:

Finde das Zentrum der tropischen Störung, erstelle zwei
Intensitätsabschätzungen, wähle die am besten passende Intensität aus
und wende die vorhandenen Regeln an. Diese Regeln beschreiben z.B.
wie schnell sich ein tropischer Sturm über Land abschwächen darf,
oder wie schnell er sich intensivieren darf. Diese Regeln sollten in
den meisten Fällen nicht gebrochen werden, was aber nicht immer
klappt (z.B. bei sich rasant intensivierenden tropischen Stürmen).
Das endgültige Resultat ist eine Nummerierung, die von 1.0 bis 8.0
geht, wobei 8.0 den perfekten Sturm darstellt. Der Supertaifun
Haiyan, der im Jahr 2013 auf die Philippinen traf, erhielt diese
höchste Einstufung und war letztendlich für mehr als 6350 Todesopfer
und historische Schäden verantwortlich und auch der Hurrikan Patricia
erreichte im Ostpazifik im Jahr 2015 diesen Wert.

Zum besseren Verständnis wenden wir die Analyse stark vereinfacht an
einem Beispiel aus dem Jahr 2020 an: Hurrikan EPSILON im
Nordatlantik.
Beschrieben wird die Entwicklung des Hurrikans EPSILON im Jahr 2020
über dem offenen Nordatlantik. In Bild 1 vom 18.10.2020 erkennt man
eine gut ausgebildete Wolkenspirale/Bodenzirkulation, die mit einem
roten Pfeil hervorgehoben wurde. Die eigentliche hochreichende und
beständige Konvektion (gelb umrandet) ist noch sehr weit abseits
dieses Zentrums zu finden. Wie bereits kurz erläutert ist es aber
notwendig, dass eben diese Konvektion zentrumsnah entsteht, damit sie
u.a. durch Freisetzung latenter Wärme den Wirbel intensivieren kann.
Häufig ist diese Art der Konvektionsverteilung Folge starker
Windscherung oder zeigt ein frühes Entwicklungsstadium des Systems
an. Zu diesem Zeitpunkt wurde diese Störung von den Meteorologen
genau beobachtet, es gab aber noch keine Warnaktivität. Das erste
Bild zeigt bereits wunderschön, wie sich die Konvektion in Art
Spiralen um das Zentrum windet. Grundsätzlich intensiviert sich das
System, je weiter sich die Konvektion entlang dieser Bänder nach
Außen voran arbeitet (und natürlich zentrumsnah vorhanden ist).

Daher kommt für dieses Analyseverfahren eine logarithmische Spirale
zur Geltung. Das Zentrum der Spirale liegt deckungsgleich über dem
Zentrum des Sturmes. Die Konvektionsbänder sind entlang der
logarithmischen Spirale angeordnet. Je mehr Bereiche der Spirale von
den Konvektionsbändern eingenommen werden, umso kräftiger ist das
System entwickelt. Eine detaillierte Beschreibung würde den Umfang
des Tagesthemas jedoch sprengen.

Nur einen Tag später, am 19. Oktober, hat sich das Bild der Störung
dramatisch verändert. Die Konvektion hat sich deutlich näher ans
Zentrum herangearbeitet und im nördlichen und östlichen Quadranten
des Systems konnte sich verbreitet langlebige und intensive
Konvektion in Form hochreichender Gewitter- und Schauerwolken
entwickeln. Die Störung war nun auf jeden Fall in der
Entwicklungsphase und im Tagesverlauf wurden die ersten Warnungen
herausgegeben. Die Störung erhielt offiziell den Namen EPSILON.

Wiederum einen Tag später ist das Zentrum des Systems vollkommen von
hochreichender und beständiger Konvektion bedeckt. Im Fachjargon
spricht man davon, dass sich ein sogenannter "central dense overcast"
ausgebildet hat. Ins Umgangssprachliche übersetzt bedeutet dieser
Begriff, dass ein Batzen hochreichender und langlebiger Konvektion
das Zentrum bedeckt. Dies ist ein Anzeichen, dass das System nun
immer mehr an Fahrt aufnimmt. Wir sprechen mittlerweile von einem
kräftigen Tropensturm mit 1-min gemittelten Windgeschwindigkeiten von
100 km/h. In den Nachtstunden zum 21. Oktober wurde der Sturm dann zu
einem Hurrikan der Kategorie 1 auf der fünfteiligen Saffir-Simpson
Skala hochgestuft.

Der Hurrikan EPSILON intensivierte sich weiter und es bildete sich
das für einen Hurrikan nicht unübliche Auge aus, das sich im
Tagesverlauf immer weiter erwärmte . Per Satellit und später auch
durch Flugzeugmessungen von den sogenannten "Hurrikanjägern"
bestätigt wurden Temperaturwerte im Auge von +14 und +15 Grad
gemessen. Gleichzeitig stießen direkt um das Auge herum hochreichende
Gewitter- bzw. Schauerwolken bis in die oberste Troposphäre vor und
wiesen Wolkenoberflächentemperaturwerte von teils bis zu -50 Grad
auf. Je stärker dieser Temperaturkontrast "Auge -
Oberflächentemperatur der Gewitterwolken" ausgeprägt ist, umso
intensiver ist die Dynamik eines Tropensturms und es verwundert
nicht, dass EPSILON an diesem Tag zu einem Kategorie 3 Hurrikan mit
mittleren Windgeschwindgkeiten von mehr als 180 km/h (Mittelwind!)
reifte. Gott sei Dank blieb dieser Sturm über dem offenen Atlantik
und schwächte sich später ohne Landgang allmählich wieder ab.

Die Dvorak-Analyse ist deshalb von so großer Bedeutung, da es abseits
des Nordatlantiks und östlichen Nordpazifiks keine regelmäßigen
Messflüge in Tropenstürme gibt, die Echtzeitdaten über die Intensität
des Sturmes liefern. Man ist somit in den meisten Regionen auf eben
diese Intensitätsabschätzung angewiesen, um die Bevölkerung
rechtzeitig vor sich rasant intensivierenden Tropenstürmen warnen zu
können. Mithilfe dieser Analyse ist es somit weltweit möglich, auch
auf den entferntesten Weltmeeren die Intensität eines Tropensturms
ausreichend gut bestimmen zu können. Spezialisten, die mit dieser
Methode durch ihre alltägliche Arbeit vertraut sind, können von daher
auch Schiffe und Bewohner auf Inseln sowie ganze Küstenabschnitte
frühzeitig bewarnen und helfen dadurch, dass rechtzeitig
Evakuierungen durchgeführt werden können. Perfekt ist die Methode
sicherlich nicht. Es gibt immer wieder Stürme, die Überraschungen
bereithalten, was z.B. auch auf EPSILON zutraf. Dennoch ist die
Genauigkeit der Intensitätsbestimmung bei statistischen Auswertungen
beeindruckend hoch, sodass dieses Verfahren bis heute nicht aus der
Tropenmeteorologie wegzudenken ist.

Dieses Vermächtnis hat Vernon Francis Dvorak der Nachwelt
hinterlassen und somit geht dieser unauffällig agierende
Wissenschaftler/Meteorologe wohl unsterblich in die Geschichte der
Meteorologie ein.

Ein wahres Idol, ein stiller Held ? Ruhe in Frieden!




Dipl.-Met. Helge Tuschy
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 04.02.2023

Copyright (c) Deutscher Wetterdienst