Thema des Tages

30-07-2023 13:50


Wissenschaft kompakt
Knapp Zwanzig Zentimeter


Am 24. Juli 2023, nur fünf Tage nachdem Großhagelereignis mit 16
Zentimetern, wurde der Europarekord erneut übertroffen. In
Norditalien schlug nämlich ein 19 Zentimeter großes Hagelkorn ein.


Hagelschlag kann enorme Schäden verursachen. Besonders großer oder
extrem großer Hagel hat vor allem in Verbindung mit Wind erhebliches
Zerstörungspotential. Davor schützen kann man sich kaum. Da die
Hagelereignisse sehr kleinräumig auftreten, ist eine frühzeitige
Vorhersage nahezu unmöglich. Man kann lediglich das Potential für
(großkörnigen) Hagel abschätzen. Ob es einen dann trifft oder nicht,
lässt sich erst sagen, wenn das Ereignis schon kurz bevor steht.

Ein Hagelkorn entsteht, wenn sich um ein bereits vorhandenes
Eisteilchen andere kleine Eispartikel zusammenwachsen. Das Hagelkorn
ist dann weißlich, milchig und weißt Lufteinschlüsse vor. Teilweise
frieren aber auch unterkühlte Wassertröpfchen langsam an. Diese
Eisschichten sind dann durchsichtig. (Hagel und seine Entstehung
siehe Thema des Tages vom 28.08.2020). Man unterteilt Eiskörner auch
nach ihrer Größe. Kleine Eiskörner mit einem Durchmesser zwischen 2
und 5 Millimetern werden als Graupel bezeichnet. Erst wenn die
Eiskörner größer werden spricht man von Hagel. Große Hagelkörner
bewegen sich dabei in einer Größenordnung zwischen 2 und 5
Zentimetern. Ab 5 Zentimetern spricht man dann von sehr großem Hagel.
Aber es geht auch noch eine Nummer größer. Ab einem Durchmesser von
10 Zentimetern beginnt der extrem große Hagel. Solch extrem großen
Hagelkörner sind auch extrem selten. Doch am vergangenen Montag, den
24. Juli 2023 fiel in Azzano Decimo, einer Gemeinde etwa 70 km
nordöstlich von Venedig, ein 19 Zentimeter großer Eisklotz vom
Himmel. Wie können solche Riesen unter den Hagelkörnern entstehen?

Um großen Hagel produzieren zu können, müssen verschiedene
Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen braucht man ein Gewitter mit
starkem Aufwind. Umso energiereicher ein Gewitter ist, umso stärker
können die Aufwinde innerhalb des Gewitters ausfallen. Der Aufwind
ist nötig, damit das Hagelkorn lange genug im Gewitter gehalten
werden kann, ohne dass es einfach der Schwerkraft folgend zu Boden
fällt. Die zur Verfügung stehende potentielle Energie (Convective
available potential energy) wird in der Meteorologie kurz als CAPE
bezeichnet. Aus dem CAPE-Wert lässt sich durch eine empirische Formel
die maximale Aufwindgeschwindigkeit in einer Gewitterzelle berechnen.
Diese maximale Vertikalgeschwindigkeit wird in der Realität nie
erreicht, da es in einem Gewitter zu Reibungsverlusten und
Turbulenzen kommt, wo sich Auf- und Abwinde gegenseitig behindern.
Für die Entstehung von extrem großen Hagel sind also sehr
energiereiche Superzellen notwendig. Eine Superzelle ist eine
rotierende Gewitterzelle (siehe Thema des Tages vom 28.07.2023).
Durch die Rotation werden Auf- und Abwinde voneinander getrennt und
die Energie des Gewitters kann effektiver für
Aufwindgeschwindigkeiten genutzt werden.
Um ein Hagelkorn zum Wachsen zu bringen benötigt man ebenfalls einen
hohen Wassergehalt in der Gewitterzelle. Der effektivste
Temperaturbereich zur Bildung und Vergrößerung von Hagelkörnern ist
um minus 20 Grad. In diesem Bereich befinden sich in der Wolke sowohl
unterkühltes Wasser als auch Eispartikel. Bei niedrigeren
Temperaturen gibt es kaum noch Flüssigwasser in der Atmosphäre. In
Verbindung mit starken Aufwinden kann aber auch ein hoher
Wasserdampfgehalt in unteren Schichten zu einem erhöhten
Wasserdargebot im Hagelwachstumsbereich führen. Bei hohen
Feuchtigkeitswerten in unteren Luftschichten hat also das Hagelkorn,
dass sich im Aufwind befindet, immer genug Nachschub an Feuchtigkeit.


Ein weiterer Aspekt ist die Verweildauer der Hagelkörner in der
Atmosphäre. Die Lebensdauer von Superzellen ist sehr lange und kann
mehrere Stunden betragen. Damit hat das Hagelkorn viel Zeit für
seinen Wachstumsprozess. Ideale Voraussetzungen zur Bildung von
extrem großen Hagelkörnern sind also sehr hochreichende,
energiereiche Superzellen in einer feuchten Atmosphäre.

Diese idealen Voraussetzungen zur Bildung von extrem großen
Hagelkörnern treten in den letzten Jahren immer häufiger in
Norditalien auf. In den letzten Wochen gab es dort einige
Großhagelereignisse. Aber nicht nur in Norditalien, sondern auch in
Deutschland treten immer wieder Gewitter mit großen Hagelkörner auf.
Vor allem Süddeutschland ist davon betroffen.

Bei dem Rekordereignis letzte Woche in Italien hat sich die
Wetterlage wie folgt dargestellt: In der Höhenströmung schwenkte ein
Kurzwellentrog über den nordwestlichen Mittelmeerraum hinweg.
Trogvorderseitig herrschte eine heiße und auch feuchte Luftmasse über
dem nördlichen Mittelmeerraum vor. In Norditalien herrschten
Höchstwerte von 30 Grad und Taupunkte über 20 Grad vor. Von der
adriatischen Küste sorgt ein schwacher Südwind für weitere Zufuhr von
feuchter Luft in den bodennahen Schichten. Durch den herannahenden
Trog nahm die hochreichende Windscherung im Tagesverlauf zu. Ab dem
Nachmittag sahen die Wettervorhersage bereits erste
Superzellenentwicklungen über den Alpen vor. Über Norditalien war die
Luftmasse sehr labil geschichtet die CAPE-Werte lagen laut den
Modellprognosen zwischen 2000 und 4000 J/kg. Der Radiosondenaufstieg
von S. Pietro etwa 150 km südwestlich von Azzano Decimo am 25. Juli
2023 um 00 UTC zeigt die sehr energiereiche Luftmasse in der Region
(siehe Abbildung 3). Ein Gewitter, bildete sich bereits am Abend an
den Alpen nordwestlich von Mailand. In der ersten Nachthälfte
intensivierte es sich dann über Venetien deutlich. Im
Niederschlagsradar war ein hakenförmiges Echo zu erkennen. Eine
Charakteristik des Radarbildes, das eindeutig auf Superzellen
hindeutet. Gegen 23 Uhr MESZ traf die Superzelle dann Azzano Decimo.

Ob es in Zukunft noch größeren Hagel geben wird, oder ob solche
Ereignisse öfter auftreten werden, ist nicht eindeutig zu sagen. Auch
ein eindeutiger Trend der letzten Jahrzehnte lässt sich nur mit
äußerster Vorsicht ableiten. Es gibt nämlich keine homogenen
Messreihen für Hagel. Da dieser nur sehr lokal auftritt ist es eher
unwahrscheinlich, dass meteorologische Instrumente den Hagel direkt
messen. Vielmehr ist man auf Augenbeobachtungen durch
Hobbymeteorologen oder anderen Privatpersonen angewiesen, die den
Hagel fotografieren und melden. Während der Smartphone-Generation
wurden also viel mehr Hagelereignisse gemeldet, als dass noch vor 30
Jahren der Fall war. Aufgrund der prognostizierten höheren
Temperaturen und damit höheren Luftfeuchtigkeit in der unteren
Troposphäre steigt jedoch in den kommenden Jahrzehnten das Potential
zur Gewitterbildung und auch das Potential für schwere Gewitter.
Der aktuelle Deutschlandrekord der Hagelkorngröße liegt übrigens bei
14,1 Zentimetern. Gefunden wurde das Hagelkorn am 06.08.2013 in
Undingen (Reutlingen) in Baden-Württemberg.



MSc Sonja Stöckle
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 30.07.2023

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