Thema des Tages

10-09-2023 13:20


Wissenschaft Kompakt
Kleine Gewitterkunde ? Teil 5: Die Squall-Line (Gewitterlinie)

Heute werden die Entstehung sowie die Prozesse an einer Gewitterlinie
erklärt.

Im Thema des Tages vom 6. September ging es um größere
Gewitterkomplexe, auch mesoskalige konvektive Systeme (MCS) genannt.
Eine spezielle Form ist die im Fachjargon als "Squall-Line"
bezeichnete Gewitterlinie.

Squall-Lines entstehen häufig auf der Vorderseite (d.h. östlich)
eines Höhentiefs am Rande der Frontalzone. Dort ist (bedingt durch
die hohe Baroklinität) eine starke Windscherung vorhanden (Zunahme
und Richtungsänderung des Winds mit der Höhe). Diese spielt bei der
Erhaltung einer Squall-Line eine wesentliche Rolle, wie wir später
noch sehen werden. Befindet sich das Tief über dem nahen Ostatlantik
oder Westeuropa, so wird mit einer südlichen bis südwestlichen
Strömung zudem feucht-warme Subtropikluft nach Mitteleuropa geführt.

Oft bildet sich in dieser Warmluft etwa 100 bis 200 km vor einer
Kaltfront in Bodennähe ein rinnenförmiges Tief, in das die Luft von
beiden Seiten im Bereich einer Konvergenzlinie zusammenströmt und zum
Aufsteigen gezwungen wird. Dadurch entstehen zunächst isolierte
Gewitter (Einzelzellen, Multizellen, in seltenen Fällen auch
Superzellen). Diese wachsen allmählich zu einer Linie zusammen, die
mehrere Hundert Kilometer lang sein kann ? die Squall-Line ist
geboren. Durch wiederholte Neubildung von Gewittern am Vorderrand
kann die Squall-Line über mehrere Stunden andauern. Im
fortgeschrittenen Stadium weist der Querschnitt einer Squall-Line
eine starke Asymmetrie auf (Abb. 1). Die Vorderseite ist geprägt von
Gewittern mit Starkregen. Diese können eine zusammenhängende Linie
bilden (Abb. 2a) oder Lücken besitzen, bei denen man noch die
Aneinanderreihung der einzelnen Gewitter erkennen kann (Abb. 2b).
Dahinter folgt als "Überbleibsel" der alten Gewitter ein Bereich mit
schwachen bis mäßigen und relativ gleichmäßigen Regen, der mit
fortscheidender Dauer an Ausdehnung zunimmt.



Die Squall-Line hält sich durch eine ausgeprägte Eigendynamik am
Leben: An ihrer Vorderseite steigt Warmluft im Aufwindbereich
(Updraft) auf. Als Gegenbewegung sinkt Luft aus oberen
Atmosphärenregionen im Abwindbereich (Downdraft) ab. Durch Verdunsten
von Wassertropfen sowie durch Schmelzen und Sublimieren von
Eispartikeln wird die Luft im Downdraft stark abgekühlt. Da kalte
Luft schwerer ist als warme Luft, wird der Downdraft auf seinem Weg
nach unten beschleunigt, bis die Luft am Boden horizontal ausströmt.
Durch die zahlreichen Gewitter entlang der Squall-Line kann so ein
massives Kaltluftreservoir entstehen, das als Kältepool bezeichnet
wird (Abb. 1).



Bei fehlender Windscherung würde der Kältepool in die Warmluft
fließen und den Aufwindbereich von der Warmluft abschneiden. Die
Gewitter würden sich also rasch wieder auflösen. Die Windscherung
führt allerdings dazu, dass an der Vorderseite der Gewitterlinie der
Wind in Bodennähe dem Ausfließen des Kältepools entgegenwirkt (siehe
Windpfeile in Abb. 1). So entsteht ein Gleichgewicht zwischen
Kältepool und Windscherung, das gewährleistet, dass der Kältepool
zunächst unterhalb der Gewitter verbleibt. Dort schiebt sich die
kalte und schwere Luft des Kältepools unter die leichtere und
energiereiche Warmluft, wodurch diese gehoben wird. Die
kontinuierlich aufsteigende Warmluft kann so wiederholt neue Gewitter
auslösen, während die abschwächenden "alten" Gewitter langsam auf die
Rückseite der Squall-Linie wandern und den gleichmäßigen Regen
ausbilden. Mit fortschreitender Zeit wird der Kältepool immer
mächtiger und dominiert schließlich gegenüber der Windscherung. Nun
fließt der Kältepool zunehmend in den vorderseitigen Warmluftbereich
und die Squall-Line befindet sich im Auflösestadium.

Studien haben aber gezeigt, dass die reine Wechselwirkung zwischen
Kältepool und Windscherung die Langlebigkeit einer Squall-Line nicht
vollständig erklären kann. Auch eine Scherung oberhalb des Kältepools
bis etwa 5 Kilometer Höhe trägt zur Erhaltung der Squall-Line bei.
Zudem spielt ein weiteres Windsystem eine wichtige Rolle: Da die
aufsteigende leichtere Warmluft eine geringere Dichte als die
schwerere Kaltluft des Kältepools besitzt, bildet sich am Boden ein
kleines Hoch (H), auch Gewitterhoch genannt, und direkt oberhalb des
Kältepools ein lokales Druckminimum (T). Um einen horizontalen
Druckausgleich zu erzielen, strömt von hinten (Rückseite) mit
zunehmender Geschwindigkeit Luft in Richtung des Tiefs. Dadurch
entsteht oberhalb des Kältepools ein Starkwindband, der sogenannte
"Rear Inflow Jet". Er strömt also in Richtung des Updrafts und kann
diesen aufrichten, was zum Erhalt der Squall-Line beiträgt.



Nach den zugegebenermaßen recht komplexen Erklärungen kommen wir zum
Schluss zu den Auswirkungen einer Squall-Line. Neben Starkregen kann
es vor allem im Anfangsstadium, wenn die Zellen noch nicht komplett
zusammengewachsen sind, mitunter auch zu größerem Hagel kommen. Der
ausfließende Kältepool macht sich durch einen plötzlich
auffrischenden Wind bemerkbar, der häufig Sturmstärke oder sogar
Orkanstärke erreichen kann. Gleichzeitig sinkt die Temperatur meist
innerhalb weniger Minuten um 5 bis 10 Grad oder mehr (Abb. 3),
während der Luftdruck sprungartig um mehrere Hektopascal ansteigt
(Gewitterhoch im Kältepool). Setzen die Sturmböen zeitgleich mit dem
Starkregen der Gewitter ein, ist mit einer Intensivierung der
Squall-Line zu rechnen. Frischt der Wind allerdings bereits einige
Zeit vor den Gewittern auf, deutet dies darauf hin, dass der
Kältepool bereits in die Warmluft eingeflossen ist. Die Gewitter
entlang der Squall-Line sind bereits von der bodennahen Warmluft
abgeschnitten, weshalb sie sich wahrscheinlich allmählich abschwächen
werden, bis sie sich ganz auflösen. Es bleibt nur das großflächige
Regengebiet übrig.


Dr. rer. nat. Markus Übel
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 10.09.2023

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