Thema des Tages

05-11-2023 14:50


Wissenschaft kompakt
Wie hoch sind die Wellen?


Die Orkantiefserie über den Britischen Inseln sorgte über der Biskaya
für extreme Windgeschwindigkeiten und damit verbunden auch für extrem
hohen Seegang.

Am gestrigen Samstag ist schon das zweite Orkantief innerhalb einer
Woche über die Britischen Inseln zur Nordsee gezogen. Vor allem an
der Südflanke der Tiefs traten stürmische Winde mit teils extremen
Orkanböen auf. Vor allem die Bretagne war davon betroffen. Auf Land
sorgten die starken Winde für umherfliegende Gegenstände und
abbrechende Äste. Auf See generierte der starke Wind hohe Wellen.
Die Wellenhöhe hängt maßgeblich von drei Dingen ab. Zum einem von der
Windgeschwindigkeit. Zum anderen von der Wirkdauer des Windes, also
wie lange die höchsten Windgeschwindigkeiten anhalten. Und zuletzt
noch von der Windstreichlänge, auch Fetch genannt. Der genaue
Zusammenhang zwischen den drei Parametern und der signifikanten
Wellenhöhe wird in Abbildung 1 dargestellt. In den vergangenen Tagen
waren für die Biskaya alle drei Faktoren in ausreichendem Maße
gegeben. Es gab über mehrere Stunden Windgeschwindigkeiten zwischen
Sturm- und Orkanstärke, die aus westlicher Richtung über den
Nordatlantik fegten. Dies alles führte zu einer sogenannten
ausgereiften See. Die See gilt als ausgereift, wenn eine Erhöhung der
Wirkdauer und der Streichlänge zu keinem höheren Seegang führen
würde.
Der Seegang, der in Abbildung 1 abgelesen werden kann, ist die
sogenannte signifikante See. Der signifikante Seegang oder die
signifikante Wellenhöhe ist eine Größe, die in ihrer Definition erst
mal sehr theoretisch klingt. In der Praxis lässt sich dieser aber für
geübte Seefahrer gut beobachten. Laut Definition ist der signifikante
Seegang die mittlere Wellenhöhe des höchsten Drittels aller Wellen in
einem Seegebiet. Dabei ist das Seegebiet mindestens 10 auf 10
Kilometer groß. Die Wellen werden zudem in einem repräsentativen
Zeitraum beobachtet. Das heißt, wenn man 300 Wellen beobachtet,
werden die kleinsten 200 Wellen ignoriert. Aus den höchsten 100
Wellen wird der Mittelwert gebildet.
Bei längerer Betrachtung des Wellenbildes auf See kann man mehrere
Wellen beobachten. Zum einen gibt es die Windsee. Das sind die
Wellen, die direkt von der Kraft des Windes generiert werden und sich
immer in Windrichtung ausbreiten. Da es Schwankungen in der
Windgeschwindigkeit gibt, weist die Windsee selbst bereits eine
Wellenverteilung auf. Keine Welle gleicht exakt der anderen. Zum
anderen sieht man unter Umständen auch Dünungswellen, die aus
unterschiedlicher Richtung und mit unterschiedlichen Wellenlängen
kommen können. Die Dünung ist quasi eine "alte" Windsee. Von
entfernten Sturmgebieten laufen die Dünungswellen unabhängig von der
Windrichtung über das Meer. Dünungswellen sind zudem in ihrer Höhe
unabhängig vom lokalen Wind vor Ort. Alle Wellen zusammen ergeben ein
Wellenspektrum. Wenn man die Wellenhöhen des Spektrums zusammenträgt,
ergibt sich eine Verteilung der Wellenhöhen, die in etwa einer
Rayleigh-Verteilung entspricht (Abbildung 2).
Nach der theoretischen Rayleigh-Verteilung der Wellenhöhen sind also
ein Großteil der tatsächlich auftretenden Wellen niedriger als der
signifikante Seegang und nur wenige Wellen höher. Doch warum wird
dann trotzdem der signifikante Seegang als Mess- und Vorhersagegröße
herangezogen?
Operationelle Seegangsmessungen erfolgen mit verschiedenen
Messinstrumenten beispielsweise an festen Bauwerken wie
Offshore-Windenergieanlagen oder Ölplattformen. Traditionell gibt es
auch Seegangsmessbojen die ihre Daten an Land funken. Zudem erfolgt
die Beobachtung von Seegang noch manuell von erfahrenen Seeleuten auf
Schiffen. Bei allen Beobachtungs- und Messmethoden wird zum einen der
signifikante Seegang, wie auch die maximale Wellenhöhe erfasst. Dies
wird bereits seit Jahrzehnten so praktiziert, sodass der signifikante
Seegang zu einer Größe wurde, unter der sich jeder Seemann was
vorstellen konnte. Der Theorie zu Folge lässt sich mit dem
signifikanten Seegang auch die maximalen Einzelwellen und ihre
Wahrscheinlichkeit ableiten. Jede hundertste Welle ist etwa 60
Prozent höher als die signifikante Wellenhöhe, jede tausendste Welle
ist 80 Prozent höher. Gibt es in einem Seegebiet Kreuzsee, kann sich
die Verteilung der Wellen nach rechts verschieben. Das heißt, wenn
Windsee und Dünung im senkrechten Winkel aufeinandertreffen, kommt es
häufiger zu höheren Einzelwellen, als es bei einer Rayleigh
Verteilung statistisch möglich wäre. (siehe Thema des Tages vom
09.03.2022)
Nach der vielen Theorie, folgt jetzt der Blick auf die Praxis. Am
vergangenen Donnerstag, den 02. November 2023 hat eine Boje vor der
Küste Bretagne einen signifikanten Seegang von 11,7 Metern gemessen.
Die höchste Welle maß um 20 Meter. Leider gab es einige
Datenausfälle, was bei Bojen im Sturm häufiger vorkommt. Doch auch in
der vergangenen Nacht hat die Messboje Oléron in der Biskaya knapp 10
Meter signifikante See gemessen. Dabei war die höchste Einzelwelle 18
Meter hoch. Ein Großteil der höheren Einzelwellen 14 bis 15 Meter
hoch. In beiden Fällen entspricht die maximale Einzelwelle dem
1,8-fachem der signifikanten See. Der Großteil der Einzelwellen war
1,6 mal so hoch, wie die signifikante Wellenhöhe. Kreuzsee wurde an
beiden Tagen nicht beobachtet. Es wäre schön, wenn Theorie und Praxis
immer so gut übereinstimmen würden.



MSc Sonja Stöckle
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 05.11.2023

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