Thema des Tages

05-09-2019 08:50

"Tipping points" - die Kipp-Elemente im Klimasystem

Durch Änderungen des globalen Klimas können einige Faktoren des
Erdsystems plötzlich "umkippen" und damit in einen neuen,
unumkehrbaren Zustand versetzt werden. Klingt kompliziert? Wir
erläutern, was es mit diesen "Kipp-Punkten" auf sich hat und geben
Beispiele.

Die diesjährigen Hitzewellen ließen immer wieder die Frage
entflammen: "Ist das noch ein normaler Sommer oder schon der
Klimawandel?" - Diskussionen über Klima und Klimawandel hört man
überall. Viele Menschen fürchten katastrophale Folgen wie extreme
Dürre oder Extremniederschläge. Andere halten das für übertrieben
oder streiten einen Einfluss des Menschen aufs Klima ab. Gerade als
Meteorologe wird man häufig gefragt: "Sind denn 1 oder 2 Grad mehr
wirklich so schlimm?", "Gab es denn nicht schon immer Änderungen des
Klimas?". Was viele nicht wissen oder in Diskussionen untergeht: Es
gibt sogenannte "Kipp-Punkte" - Stellschrauben im Klimasystem, die
"umkippen" und dadurch das Klima irreversibel verändern können? Aber
von vorne:

In vielen Bereichen des Lebens begegnen uns "lineare Systeme", d.h.
es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung:
Beispiel Dynamo - je stärker man in die Pedale tritt, desto heller
strahlt die Lampe. Das Klimasystem ist jedoch ("leider") nicht-linear
und überaus komplex, d.h. kontinuierliche Änderungen führen nicht zu
einer allmählichen Reaktion, sondern auch kleine Änderungen können in
anfälligen Regionen plötzliche und drastische Auswirkungen haben. Man
kann das auch mit einer vollen Kaffeetasse vergleichen, die langsam
über den Tischrand geschoben wird. Zunächst passiert nichts, doch
plötzlich erreicht sie einen kritischen Punkt, an dem sie kippt. Im
Klimasystem gibt es gleich mehrere solcher kritischer Systeme, für
die gilt: Selbst wenn die Ursache danach zurückgenommen werden würde
(z.B. alle Treibhausgas-Emissionen sofort gestoppt würden), würde das
System Klima nicht unbedingt wieder in den alten Zustand
zurückkehren, die Änderung ist also irreversibel. Wie die zerbrochene
Kaffeetasse.

Wissenschaftler haben in diesem Zusammenhang verschiedene
"Kipp-Punkte" oder "Kipp-Elemente" (engl. "Tipping points")
ausgemacht, die für solche irreversiblen Änderungen anfällig sind -
dazu gehören z.B. der Amazonas-Regenwald, der Monsun, der Golfstrom
oder der antarktische Eisschild. Werden bestimmte Schwellen
überschritten, bleibt z.B. der indische Monsun dauerhaft aus oder der
Regenwald im Amazonas-Gebiet verschwindet vollkommen. Allgemein
gesagt: Manche Effekte des Klimawandels sind ab einem gewissen Punkt
(d.h. sobald beispielsweise eine Temperaturschwelle überschritten
ist) nicht mehr zu stoppen und unumkehrbar.

Die Vorhersage eines "Umkippens" könnte daher dafür genutzt werden,
großen Schaden zu verhindern; die Wissenschaft ist davon aber noch
ein großes Stück entfernt: Man weiß nicht genau, wann ein "Umkippen"
der einzelnen Elemente erfolgt. Klimawissenschaftler der Australian
National University haben nun vielmehr auf die Gefahr hingewiesen,
dass die Kipp-Elemente wie Dominosteine agieren können: Ein Stein
fällt und stößt den nächsten um. Schon der Fall einzelner Steine hat
weitreichende Auswirkungen.

10 unterschiedliche Kipp-Elemente sind in der beigefügten Grafik
dargestellt. Drei Beispiele:

- Das grönländische Festlandeis ist bis zu 3 km dick und entspricht
derartig viel Wasser, dass ein komplettes Abschmelzen den
Meeresspiegel um sieben Meter steigen ließe. Sobald eine bestimmte
globale Temperaturzunahme überschritten ist, lässt sich das
vollständige Schmelzen des Eispanzers nicht mehr aufhalten. Das
bedeutet freilich nicht, dass der Meeresspiegel anschließend rasant
um 7 Meter steigt und Hamburger jetzt schon ans Umziehen denken
müssen. Aber schon heute schwindet das grönländische Eis schneller,
als vorausberechnet.

- Der Amazonas-Regenwald ist eine gewaltige Kohlenstoffsenke. Circa
ein Viertel des weltweiten Kohlenstoffaustauschs zwischen Atmosphäre
und Biosphäre finden dort statt, er ist quasi die "grüne Lunge" der
Erde. Durch extreme Trockenheit werden die Bäume so stark
angegriffen, dass sie absterben (weiter fortschreitende Abholzung
verstärkt das Problem). Bei einem Umkippen des Regenwaldes etwa in
eine Savannen-Vegetation könnte also kaum oder nur noch wenig CO2
gebunden werden, und enorme Mengen des Treibhausgases blieben in der
Atmosphäre.

- Auch der Permafrostboden gehört zu den Kipp-Elementen. Wenn er
auftaut, zersetzt sich das darin erhaltene organische Material und es
wird Kohlenstoff und Methan frei. Im hohen Norden umfasst der
Permafrost eine Fläche von 10 Mio. km2 (etwa der 30-fachen Fläche
Deutschlands). Mehrere Hundert Milliarden Tonnen Kohlenstoff sind
dort seit der letzten Eiszeit eingelagert. Der Auftauprozess
schreitet derzeit viel schneller voran, als selbst die
pessimistischsten wissenschaftlichen Studien annahmen. Inzwischen ist
das Auftauen so weit vorangeschritten, wie es in den Szenarien des
IPCC für das Jahr 2090 prognostiziert wurde.

Bei den düsteren Prognosen also resignieren und einfach hoffen, dass
"nichts kippt"? Dazu sei gesagt, dass jedes (gar jedes Zehntel) Grad
einen Unterschied macht. Oder um es mit den Worten von Dr. Eckhart
von Hirschhausen (Scientists for Future Pressekonferenz, Link siehe
unten) abzuschließen: "Viele denken, ein Grad, zwei Grad, drei Grad,
das macht doch keinen Unterschied. Als Arzt kann ich Ihnen sagen, es
macht einen großen Unterschied, ob ich 41 Grad oder 43 Grad Fieber
habe. Das eine ist mit dem Leben vereinbar. Das andere nicht."


Dipl.-Met. Magdalena Bertelmann
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 05.09.2019

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