Thema des Tages

29-01-2020 10:50

Lawinenkunde Teil 5 - Gleitschneelawinen

Gleitschneelawinen spielen in der Lawinenunfallstatistik eine
untergeordnete Rolle und verursachen nur sehr vereinzelt tödliche
Unfälle. Doch welche Voraussetzung braucht diese Lawinenart? Und was
haben "Fischmäuler" damit zu tun?


In den vorangegangenen Themen des Tages vom 14.01., 21.01., 22.01.
und dem gestrigen 27.01.2020 wurden bereits generelle Gefahren bei
Lawinen, die Prozesse der Schneeumwandlung innerhalb der Schneedecke
sowie die Lawinenarten der Schneebrett- und Lockerschneelawinen
behandelt. Im heutigen Thema darf die noch fehlende Gleitschneelawine
im Mittelpunkt stehen.

Gleitschneelawinen gehen in der Regel spontan ab und werden nicht von
Wintersportlern ausgelöst. Im Vergleich zu den anderen Lawinenarten
stellen sie nur selten eine Gefährdung für den Wintersportler dar.
Dennoch können Gleitschneelawinen in schneereichen Wintern ein großes
Problem für Verkehrswege und Infrastruktur werden.

So war beispielsweise der Winter 2011/12 im Allgäu von einem
anhaltenden Gleitschneeproblem geprägt, als nach einem warmen
Spätherbst die weitgehend aperen (schneefreien) Steilwiesen massiv
eingeschneit wurden. Das dicke Schneepaket isolierte den relativ
warmen Boden. Als dieses zusätzlich durchfeuchtet wurde, bildeten
sich riesige "Fischmäuler" (Die Bezeichnung leitet sich ab vom sich
öffnenden Maul eines Fisches: siehe Bild). Wenn sich solche
"Gleitschneemäuler" immer mehr öffnen, können daraus
Gleitschneelawinen entstehen. Sie reißen linienartig an, und die
gesamte Schneedecke rutscht ab.

Die Ursache von Gleitschneelawinen ist das Gleiten des Schnees auf
dem Untergrund. Im Gegensatz zum Schneebrett entstehen sie nicht
durch einen Bruch in der Schneedecke, sondern durch großflächigen
Reibungsverlust zwischen Schneedecke und Unterlage aufgrund von
Wasser. Je glatter der Untergrund, desto eher können
Gleitschneelawinen im Steilgelände auftreten - typischerweise auf
steilen Wiesenhängen oder glattem (felsigem) Untergrund. Je steiler
der Hang, desto eher gleitet der Schnee ab.

Am Anfang führt schnelles Schneegleiten (einige Millimeter bis
mehrere Zentimeter pro Tag) zu einem hangparallelen Zugriss durch die
gesamte Schneedecke: Das "Fischmaul" entsteht. Wenn die Gleitbewegung
der Schneetafel weiter zunimmt, geht sie als Gleitschneelawine ab.
Dabei hinterlässt diese Lawine an der Abrutschstelle einen komplett
schneelosen Hang.

Gleitschneelawinen lassen sich in "kalte" und "warme" Ereignisse
einteilen. "Kalte" Gleitschneelawinen gehen vor allem im Hochwinter
ab. Dabei ist die Schneedecke aufgrund der meist niedrigen Temperatur
im Hochwinter überall kalt und trocken. Der Boden hat jedoch oft eine
höhere Temperatur und schmilzt die untere Schicht an. Dadurch
entsteht ein Feuchtigkeitsfilm am Untergrund der Schneedecke, wodurch
die Reibung verringert wird und ein Abrutschen ausgelöst werden kann.


Zu einer "warmen" Gleitschneelawine kommt es, wenn die Schneedecke
vorwiegend in den Frühjahresmonaten durch die steigenden
Temperaturen, die Sonneneinstrahlung oder durch zusätzliche
Regenfälle von oben her durchfeuchtet wird. Besonders in der zweiten
Tageshälfte herrscht im Frühjahr Tauwetter und das Schmelzwasser
sickert bis zum Untergrund der Schneedecke. Dadurch bildet sich
wieder zwischen der glatten Erdoberfläche und der Schneedecke ein
Wasserfilm und die Schneelast kann sich lösen.

Den Abgangszeitpunkt von Gleitschneelawinen vorherzusagen, ist kaum
möglich, da sie zu jeder Tages- und Nachtzeit abgehen können und
nicht nur bei hohen Temperaturen. Um das Risiko für den
Wintersportler klein zu halten, bleibt also nur eins: Zonen mit
"Fischmäulern" meiden oder sich zumindest nicht länger als unbedingt
nötig unter ihnen aufhalten.

Der Lawinenwarndienst Bayern stuft die Lawinengefahr derzeit oberhalb
der Waldgrenze als "erheblich" ein. Darunter sowie in den Bayerischen
Voralpen und den Chiemgauer Alpen wird sie "mäßig" eingeschätzt.
Durch den Neuschneezuwachs, der mit Sturm einherging, rückt die
Auslösung von Schneebrettlawinen bei Triebschneeansammlungen in den
Fokus. Auch größere selbstauslösende Lockerschneelawinen an
Steilhängen sind möglich. Auf zuvor ausgeaperten glatten Wiesenhängen
kann die frische Schneedecke auf dem warmen Boden abgleiten. Der
Lawinenwarndienst schließt im Allgäu auch größere Gleitschneelawinen
nicht ganz aus.


M.Sc. Sebastian Altnau
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 29.01.2020

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