Thema des Tages

07-05-2020 08:50

Wenn das ewige Eis schmilzt!


Mit großen Schritten geht es auf die Sommermonate zu. Mit dem Ende
der Winterbilanz Anfang Mai auf den Gletschern beginnt nun die
Ablationsperiode und somit die jährliche Leidenszeit der
Alpengletscher. Die Witterung in den Sommermonaten ist nun von
entscheidender Bedeutung, wie die Massenbilanzen der Gletscher
innerhalb des laufenden Bilanzjahres ausfallen.


Der zurückliegende April fiel in den hochalpinen Lagen der Alpen
schon besonders warm und trocken aus. So konstatierte die
Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) mit einer
Abweichung von +3,4 °C den viertwärmsten April seit Beginn der
Aufzeichnungen und das nach milden Wintermonaten und einem bereits zu
warmen März. Das Niederschlagsdefizit im April lag im Schnitt
zwischen 50 und 70 %. Die Glaziologen dürften diese Entwicklungen
bereits erste Schweißperlen noch vor dem Sommerhalbjahr ins Gesicht
treiben. Hinzukommt, dass die Schnee- und Schneefallmengen im Winter
2019/2020 bei Weitem nicht so groß waren wie noch im Winter 2018/2019
und in der Statistik eher wieder im Durchschnitt rangiert. Für unsere
Alpengletscher alles andere als ein "guter Start" in die
Ablationsperiode.

Gletscher lassen sich idealerweise in zwei unterschiedlich definierte
Bereiche trennen. Der obere, höher gelegene Bereich des Gletschers
wird als Akkumulationsgebiet oder "Nährgebiet" bezeichnet. Dort fällt
im Mittel im Winter und Frühling mehr Schnee, als in den sommerlichen
Monaten abschmelzen kann. Der wichtigste Prozess der Akkumulation ist
zweifellos Niederschlag in Form von Schnee, aber auch Nährung durch
Lawinen, Windverfrachtung, Schneerutsche, Wiedergefrieren von
Schmelzwasser und Resublimation spielen eine Rolle. Überdauert die
Winterschneedecke den Sommer, wird der übrig gebliebene Altschnee
fortan als Firn bezeichnet. Über mehrere Jahre und Jahrzehnte wird
dieser Firn durch Komprimierung und Reduzierung der Lufteinschlüsse
immer dichter und geht nach längerer Zeit in Eis über. Das Eis fließt
durch die Schwerkraft langsam talwärts und erreicht eine je nach
klimatischen Randbedingungen eine Gleichgewichtslinie, ab der das
Ablationsgebiet beginnt. In diesem unteren Bereich des Gletschers
überwiegen das Schmelzen und die Sublimation (Verdunstung von Schnee
und Eis ohne Schmelzen) von Schnee und dem darunterliegenden
Eiskörper. Das Ablationsgebiet wird auch als "Zehrgebiet" bezeichnet.
Die Differenz aus Akkumulation und Ablation des gesamten Gletschers
wird Massenbilanz genannt. Vergleichbar ist das mit dem Führen eines
Girokontos. Auf der Habenseite sind die positiven Jahreseinnahmen aus
der Akkumulation. Die Ablation entspricht dagegen der Summe der
Ausgaben. Das Vorzeichen des Saldos zwischen Ausgaben und Einnahmen
bestimmt, ob der Gletscher an Masse zu- oder abgenommen hat. Erreicht
der Kontostand jedoch null, dann ist der Gletscher verschwunden.

Da die typische Akkumulationsperiode im Herbst beginnt und im
Frühjahr endet, die Ablationsperiode dann im Frühjahr startet und im
Herbst endet, wird der Massenhaushalt eines Gletschers nicht für
Kalenderjahre, sondern für hydrologische Jahre vom 1. Oktober bis 30.
September bestimmt. Zur Ermittlung der Massenbilanz eines Gletschers
gibt es verschiedene Methoden. Die älteste und heute noch
grundlegende Methode ist die direkte glaziologische Methode. Die
Akkumulation an einem Punkt am Gletscher wird ermittelt, indem man
die Schneetiefe und die Schneedichte misst. Die Schneetiefe bestimmt
man mit einer Sonde oder mit dem Georadar. Die mittlere Schneedichte
ermittelt man durch Wiegen von Schnee eines definierten Volumens
beispielsweise aus einem Schneeschicht. Miteinander multipliziert
ergeben Schneetiefe und -dichte die Akkumulation in Kilogramm pro
Quadratmeter. Um die Abschmelzung zu bestimmen, werden sogenannte
Ablationspegel mehrere Meter in das Gletschereis gebohrt, die nach
kurzer Zeit festfrieren. Beim nächsten Aufsuchen des Gletschers wird
die Höhenänderung gemessen. Unter Annahme einer Eisdichte von 900
Kilogramm pro Kubikmeter wird daraus die Massenänderung berechnet.

Um die Massenbilanz eines gesamten Gebirgsgletschers zu bestimmen,
werden die gemessenen oberflächlichen Akkumulationen und
Ablationpunkte auf die gesamte Gletscherfläche interpoliert. Damit
erhält man die flächenhafte Verteilung der Massenbilanz.

Die Massenbilanz eines Gletschers ist zum einen weitgehend von der
Menge des Winterschneefalls abhängig. Hohe Temperaturen im April, Mai
oder Juni können die Winterschneedecke allerdings schnell zum
Schmelzen bringen und die darunterliegenden dunkleren Eisflächen
bereits im Juli der Sonne aussetzen. Im Juli und August ist die
Sonneneinstrahlung hoch und das Schmelzen des ungeschützten Eises
wird verstärkt. Ein weiterer Faktor ist, dass durch das Abschmelzen
des weißen Schnees die meist durch Staub, Sand und Geröll deutlich
schmutzigere und damit dunklere Eisoberfläche zum Vorschein kommt. Da
eine dunkle Oberfläche deutlich mehr Sonnenstrahlung aufnimmt als ein
heller Untergrund, wird das Abschmelzen des Eises zusätzlich noch
beschleunigt. Die Kombination dieser Faktoren kann zu sehr negativen
Massenbilanzen führen. Anderseits schützt eine Sommerschneedecke
(bedingt durch sommerliche Kaltlufteinbrüche oder extreme
Winterschneedecken) bis zur Gletscherzunge die Eisfläche vor dem
Schmelzen und führt zu weniger negativen Massenbilanzen.
Ein Blick zurück: Dass Gletscherhaushaltsjahr 2018/19 der
österreichischen Alpengletscher wurde trotz der im
niederschlagsreichen Winter aufgebauten Schneemengen erneut als sehr
gletscherungünstig charakterisiert. 93,5 % der untersuchten Gletscher
wiesen einen mittleren Rückzugsbetrag von -14,3 m auf, der durch die
aufgebauten Schneereserven aus dem Winter gegenüber dem Vorjahr
zumindest etwas eingebremst wurde. Für das laufende
Gletscherhaushaltsjahr wird aufgrund der eher durchschnittlichen
Winterbilanz und der bereits überdurchschnittlich warmen
Frühjahrsmonate entscheidend sein, wie die Sommermonate verlaufen.
Ein weiterer Rückzug des ewigen Eises in den Alpen wird auch in
diesem Haushaltsjahr wohl sehr wahrscheinlich sein.
Links:

ZAMG Bilanz April 2020: https://www.zamg.ac.at/cms/de/klima/news/april-2020-sehr-warm-sehr-tr
ocken-und-sehr-sonnig

Gletscherbericht 2018/2019 Alpenverein Österreich: https://www.alpenverein.at/portal/service/presse/2020/2020_04_01_glet
scherbericht-2019.php


M. Sc. Sebastian Altnau
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 07.05.2020

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