Thema des Tages

05-10-2020 08:20

Vereisung in der Luftfahrt ? Teil 1: Rau- und Klareis


In der Luftfahrt ist Vereisung ein wichtiges, sicherheitskritisches
Thema. Doch welche atmosphärischen Bedingungen führen überhaupt zur
Bildung von Wassereis an einem Flugzeug? Welche Vereisungsarten gibt
es und welche Auswirkungen haben diese? Diesen Fragen wollen wir uns
in einem mehrteiligen Thema des Tages widmen.


Unter Vereisung wird die Ablagerung von Eis oder Reif auf
Luftfahrzeugen verstanden, die sich in der Luft oder am Erdboden
befinden. Eisansatz am Flugzeug beeinträchtigt die Aerodynamik vor
allem durch verminderten Auftrieb und erhöht zugleich den
Luftwiderstand sowie das Gewicht des Flugzeuges. So kann das Tragwerk
unter Umständen nicht mehr genügend Auftrieb erzeugen, um das
Luftfahrzeug in der Luft zu halten. Außerdem können die Ruder des
Flugzeugs blockiert und bei schnellem Eisansatz auch die Sicht
behindert werden. Eisansatz kann außerdem die Profilform der Trag-
und Steuerflächen verändern, sodass ein Strömungsabriss droht.

Es wird zwischen den folgenden Haupttypen des Eisansatzes
unterschieden: Raueis, Klareis, Mischeis, Backschnee und Raureif.

Raueis entsteht, wenn kleine stark unterkühlte Wassertröpfchen meist
mit einem Durchmesser kleiner 20 ?m (0,02 mm) bei Kontakt mit einer
Oberfläche unter 0 Grad schnell gefrieren. Die Schnelligkeit des
Übergangs in einen gefrorenen Zustand liegt darin, dass die Tröpfchen
klein sind und der fast sofortige Übergang zur Bildung einer Mischung
aus winzigen Eispartikeln und eingeschlossener Luft führt. Die
resultierende Eisablagerung ist rau und kristallin, undurchsichtig
und aufgrund ihrer kristallinen Struktur spröde und porös. (In
Abbildung 1.1. ist eine schematische Ablagerung von Raueis an einer
Tragfläche dargestellt.) Raueis wird begünstigt, wenn die Temperatur
der betreffenden Luftschicht zwischen -10 und -40 Grad liegt und der
Flüssigwassergehalt in der Wolke geringer ist. Dadurch kann die beim
Gefrierprozess freiwerdende Wärme umgehend abgeführt werden.

Raueis bildet sich häufig in stratiformer Bewölkung bei einer
feuchtstabilen Schichtung (Für detaillierte Begriffserklärungen siehe
Glossar-Links unterhalb des Textes.). Vor allem im oberen Bereich
dieser Wolken sind die erforderlichen kleinen Tröpfchen vorhanden.
Während des Fluges durch die Wolken entsteht Raueis an den
Vorderkanten der angeströmten Flugzeugoberflächen und wächst dem
Fahrtwind entgegen. (Abbildung 2 zeigt gebildetes Raueis am Tragwerk
eines Flugzeuges.) Dies kann die aerodynamischen Eigenschaften sowohl
der Flügel als auch der horizontalen Stabilisatoren beeinträchtigen
und die Lufteinlässe des Motors einschränken. Wenn das Anwachsen
anhält, können sich aus der zunächst groben Beschichtung an der
Vorderkante der Oberfläche unregelmäßige Vorsprünge nach vorne in den
Luftstrom entwickeln.

Klareis wird im Gegenteil zum Raueis durch weniger stark unterkühlte
und größere Wassertröpfchen gebildet. Diese Tröpfchen haben einen
Durchmesser von 40 bis 500 ?m (0,04 mm bis 0,5 mm) und werden im
Englischen als "supercooled large droplets" bezeichnet. Der
auftretende Temperaturbereich liegt meist zwischen 0 und -15 Grad.
Von diesen Wassertröpfchen gefriert nur ein kleiner Teil sofort, da
beim Gefrieren kurzfristig Wärme freigesetzt wird. Dies führt nach
dem Auftreffen zunächst zu einem Rücklauf des unterkühlten Wassers
und erst dann zu einem fortschreitenden Einfrieren der verbleibenden
Flüssigkeit auf den Flugzeugoberflächen, und da die resultierende
gefrorene Ablagerung als Ergebnis relativ wenige Luftblasen enthält,
ist das angesammelte Eis transparent und durchscheinend. (In
Abbildung 1.2. ist eine schematische Ablagerung von Klareis an einer
Tragfläche dargestellt.) Wenn der Gefrierprozess ausreichend langsam
ist, damit sich das Wasser vor dem Einfrieren gleichmäßiger
ausbreiten kann, ist die resultierende transparente Eisschicht
möglicherweise schwer zu erkennen. Je größer die Tröpfchen und je
langsamer der Gefrierprozess ist, desto transparenter ist das Eis.

Klareis gilt als die gefährlichste Art der Vereisung, da der
Eispanzer innerhalb weniger Minuten um einige Zentimeter anwachsen
und damit das Gewicht des Luftfahrzeuges deutlich erhöhen kann. Mit
fortschreitender Vereisung kann die zu Beginn glatte Oberfläche
uneben werden, wodurch sich zusätzlich die aerodynamische Form des
Flugzeuges verändert. (Abbildung 3 zeigt gebildetes Klareis am
Tagwerk eines Flugzeuges.) Gelegentlich können bestimmte
Kombinationen von Temperatur und Tropfengröße zur Bildung einer
Doppelhorn-Form vor allem an der Vorderkante der Tragfläche mit
Vorsprüngen sowohl von der oberen als auch von der unteren
Vorderkantenoberfläche führen. (In Abbildung 1.3. ist eine
schematische Darstellung von Klareis mit Doppelhorn-Form
dargestellt.) Klareis ist vor allem in den unteren Bereichen von gut
entwickelter cumuliformer Bewölkung anzutreffen. Außerdem kann sich
Klareis auch bei gefrierendem Sprühregen oder Regen bilden.

In den nächsten Teilen diese Reihe werden wir uns genauer mit den
Vereisungsarten Mischeis, Backschnee und Raureif und deren
Auswirkungen auf die Aerodynamik eines Flugzeuges auseinandersetzen.


M.Sc.-Met. Sebastian Altnau
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 05.10.2020

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