Thema des Tages

30-10-2020 09:50

Das Vb-Tief - Teil 2: Zugbahn und Auswirkungen am Beispiel von Tief
GISELA

Heute erklären wir anhand von Tief GISELA die typischen Eigenschaften
eines Vb-Tiefs und die Ursachen der damit verbundenen markanten
Wettererscheinungen.

Im Tagesthema vom 24. Oktober (am Ende des Textes verlinkt) haben wir
die Namensherkunft von Vb-Tiefs sowie deren besondere Zugbahn
erläutert. Vb-Tiefs bilden sich über Norditalien oder der Adria und
ziehen um die Alpen herum nach Polen. Sie lösen über Polen und der
Osthälfte Deutschlands mitunter unwetterartige Regenfälle aus. Anhand
von Tief GISELA, das Mitte dieses Monats eine Vb-artige Zugbahn nahm,
beschreiben wir die typischen Eigenschaften und Wettererscheinungen
eines Vb-Tiefs.

Am 12. Oktober stieß in der höheren Troposphäre (ca. 5,5 km Höhe) ein
Trog über West- und Mitteleuropa bis in den zentralen Mittelmeerraum
vor und tropfte dort zu einem eigenständigen Höhentief ab. An dessen
Vorderseite, ein typisches Gebiet für die Entstehung von Tiefs im
Bodenniveau, und befeuert durch die Energie des warmen Meerwassers
wurde GISELA über der Adria geboren. Da sich das Höhentief in der
Nacht zum 13. Oktober nach Osten ausdehnte, zog GISELA zunächst
nicht, wie für Vb-Tiefs üblich, nordostwärts nach Österreich und
Ungarn, sondern ostwärts Richtung Balkan (gelbe Pfeile in Abb. 1).
Dies entspricht zunächst eher einer Vc-Zugbahn. Im Laufe des 13.
Oktober bog GISELA allerdings Vb-typisch nach links ab und zog in
einem Bogen nach Norden über Rumänien in die westliche Ukraine. In
der Nacht zum 14. Oktober erreichte GISELA schließlich Südpolen und
"eierte" dort den ganzen Tag umher. Am 15. Oktober zog sie
schließlich Richtung Baltikum und löste sich auf.

Auch wenn das Tief schon am Morgen des 14. Oktober mit knapp unter
995 hPa seinen tiefsten Druck erreichte und sich im Tagesverlauf
bereits etwas abschwächte, nahm es erst jetzt richtig Einfluss auf
das Wettergeschehen in Deutschland. Vb-Tiefs saugen gewaltige Mengen
feuchtwarme Luftmassen vom Mittelmeerraum an und schaufeln diese in
einem breiten Bogen nach Norden. In Abb. 1 kann man dies gut an den
hohen Werten der pseudopotentiellen Temperatur (gelbe und hellgrüne
Farbflächen) erkennen. Diese berechnete Temperatur ist umso höher, je
wärmer und/oder feuchter die Luftmasse ist. Wird diese feuchtwarme
Luft nun gehoben, bildet sich ein ausgedehntes und intensives
Regengebiet. In der klassischen synoptischen Meteorologie lernt man,
dass eine Luftmasse in der Region gehoben wird, in die warme Luft
transportiert wird. In der Fachsprache nennt man dies
Warmluftadvektion (kurz: WLA). Bei Vb-(artigen) Tiefs wie GISELA ist
dies typischerweise an ihren Nord- und Westseiten der Fall (rot
schattierte Fläche in Abb. 1).

Ein weiterer Hebungsantrieb ist eine sich mit der Höhe verstärkende
positive Vorticityadvektion (kurz: PVA). Nähert sich ein Tief, dann
nimmt die Wirbelstärke (Vorticity) der sich gegen den Uhrzeigersinn
(als positiv definiert) um das Tief bewegten Luft zu. Dies bezeichnet
man als PVA (blau schattierte Fläche in Abb. 1). Überlagern sich PVA
und WLA, ist die Hebung besonders stark. Im Falle von GISELA fiel
daher am Morgen des 14. Oktober über Tschechien und der
Oder-Neiße-Region der intensivste Regen. (Übrigens war PVA auch der
Grund, weshalb an der Vorderseite des Höhentiefs Luftmasse aufstieg
und somit durch das Massedefizit am Boden Tief GISELA entstand.)

In der Lausitz setzte bereits am Abend des 13. Oktober Regen ein, der
sich unter Intensivierung in der Nacht und am 14. Oktober langsam
westwärts verlagerte und im Harz bis zum Morgen des 15. Oktober
andauerte. Vom Nordosten Bayerns über Thüringen bis in die Südhälfte
Brandenburgs fielen verbreitet zwischen 25 und 50 Liter pro
Quadratmeter (l/qm). In Teilen von Sachsen und am Harz kamen sogar 50
bis 90 l/qm zusammen (Abb. 2). Noch deutlich mehr Regen fiel in
Verbindung mit einem Vb-Tief im August 2002 - der Auslöser für ein
verheerendes Hochwasser an der Elbe. Damals prasselten innerhalb von
nur 24 Stunden im Bayerischen Wald, über Böhmen, Sachsen und
Südbrandenburg verbreitet über 100 l/qm vom Himmel. Nördlich des
Erzgebirges wurden sogar über 200 l/qm und in Zinnwald-Georgenfeld
(Osterzgebirge) sage und schreibe 312 l/qm gemessen - die bisher
höchste erfasste 24-stündige Regenmenge in Deutschland.

GISELA sorgte im Osten und Norden Deutschlands zudem für ordentlich
Wind. Ihr stand nämlich über dem Nordatlantik ein kräftiges Hoch mit
einem Druck von mehr als 1035 hPa bei den Färöer-Inseln gegenüber.
Dadurch entstanden an der Nordwestseite des Tiefs große
Druckunterschiede, weshalb der Wind merklich auffrischte. Vor allem
über Ostdeutschland kam es verbreitet zu steifen bis stürmischen Böen
(Beaufort 7 - 8, 50 - 74 km/h, Abb. 2). Über der Ostsee tobte sogar
ein ausgewachsener Sturm. An der vorpommerschen Küste traten über
Stunden Sturmböen, am Kap Arkona auf Rügen oder auf polnischer Seite
in Swinemünde auch schwere Sturmböen auf (Beaufort 9 - 10, 75 - 102
km/h). An der polnischen Ostseeküste gab es vereinzelt sogar
orkanartige Böen bis 108 km/h (Beaufort 11). Da der Wind aus Nordost
kam, drückte er gewaltige Wassermassen Richtung Küste, was wie am
Rand einer Badewanne zu einem Anstieg der Wasserstände führte. Dieser
sogenannte "Badewanneneffekt" brachte eine Sturmflut mit
Wasserständen bis 1,40 m über Normal und man konnte an den Stränden
von Rügen und Usedom für die Ostsee ungewöhnlich hohe Wellen
bestaunen.

Zusammenfassend kann man also sagen, dass GISELA zwar keine perfekte
Vb-Zugbahn einnahm, sie Deutschland und Polen aber die Vb-typischen
Wetterkapriolen bescherte. Mit den historischen Vb-Tiefs aus den
Jahren 1997 (Oderhochwasser) und 2002 (Augusthochwasser an Elbe und
Donau) konnte sie allerdings nicht mithalten.


Dr. rer. nat. Markus Übel (Meteorologe)
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 30.10.2020

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